Im Gespräch – Frank Göhre
von Sonja HartlFrank Göhre wurde 1943 geboren, arbeitete als Buchhändler, Verlagsangestellter, Hörfunk- und Drehbuchautor – und gilt als „der Klassiker des Noir made in Germany“ (Ulrich Noller). In seinen Büchern kommen kleine Gauner und verzweifelte Polizisten zu Wort, in seinen Montage-Texten setzt er sich mit Daniel Woodrell und dem Kino auseinander. Er schafft Großstadtgeschichten und wäre doch beinahe in der Lüneburger Heide gelandet. Zuletzt erschien im Pendragon-Verlag „Gut leben – früh sterben. Stories von unterwegs“.
Was hat Sie zum Schreiben gebracht?
Zum Schreiben veranlasst hat mich – wie bei vielen vielleicht – die allererste Liebesenttäuschung, darüber habe ich eine Kurzgeschichte geschrieben. Sie hieß „Einer weniger oder weg isser“ und handelte von einem jungen Mann, der von seiner Freundin verlassen wird und sich dann vors Auto wirft. Damit hat 1968 eigentlich alles angefangen. Zu meiner großen Überraschung wurde sie dann sofort im Südwestfunk mit Geschichten von dem damals auch noch total unbekannten Wondratschek gesendet, und wir wurden als die jungen, neuen Autoren gefeiert, die einen anderen Sprachstil hatten, weil wir uns der Alltagsprache bedienten.
Und wie sind Sie dann auf Kriminalromane verfallen?
Das ist sehr, sehr viel später entstanden. Ich habe erst drei Romane über eine Jugendgruppe von Lehrlingen und jungen Arbeitslosen im Ruhrgebiet geschrieben, dann habe ich eine Zeitlang nicht geschrieben, weil ich – ich bin gelernter Buchhändler – in einen Verlag nach München gegangen bin. Erst mit meiner Umsiedlung nach Hamburg 1981 bin ich dann zum Kriminalromanschreiben gekommen. Auslöser war Friedrich Glauser. Ich hatte ihn 1978/79 in der Heide lesend entdeckt und war dermaßen angetan, dass ich mir gewünscht hätte, so etwas ähnliches wie er über das Berner Oberland über die Lüneburger Heide zu schreiben. Ein Kommissar auf dem Land, der dort ermittelt und die kleinen Geschichten aufzulösen und hinter die Strukturen einer solchen Dorfgemeinschaft zu kommen versucht.
Damit bin ich zu Rowohlt gegangen. Der damalige Lektor Richard K. Flesch hat dann zu mir gesagt, also junger Mann, Kriminalromane schreiben ist ja gut und schön, aber vergessen sie mal die Lüneburger Heide. Wir veröffentlichen Kriminalautoren aus Amsterdam, aus Stockholm, aus Madrid, aus Barcelona, aus Rom, aus New York und so weiter, wir machen große Kriminalliteratur, wir wollen städtische Kriminalliteratur. Sie leben doch hier in Hamburg, also schreiben sie gefälligst auch über Hamburg. Das war der Anstoß, Regionalliteratur zu vergessen und über die Gebiete zu schreiben, in denen ich auch gelebt habe, dort Geschichten zu finden und weiterzuentwickeln, unterstützt mit sehr viel Recherche und Freunden, die mir sehr geholfen haben, mehr hinter die Kulissen zu blicken als normalerweise.
Ist die Verankerung in Hamburg also dem Wohnort verschuldet?
Ja, die ist dem Wohnort verschuldet. Rückblickend kann ich sagen, dass ich – auch wenn ich in München oder im Ruhrgebiet geblieben wäre – in den Großstädten verankert gewesen wäre. Der etwas flapsige Spruch von Flesch „vergessen Sie mal die Lüneburger Heide“, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Ich habe immer in Großstädten gelebt, deshalb ist die Stadt natürlich auch mein Thema.
Nun gelten Sie ja oft als der deutschsprachige Noir-Schriftsteller …
Ja, merkwürdigerweise.
Was ist Noir für Sie?
Ich kann es in Bezug auf mich gar nicht beschreiben. Ich habe mich immer als Autor gesehen, der über Leute schreibt, die am Rande der Gesellschaft, in Graubereichen oder auch ganz auf der anderen Seite leben. Das ganze Umfeld der kleinen und großen Gauner, der Kriminalität und der Nachtgeschichten, das hat mich immer motiviert und angezogen. Man kann daraus möglicherweise ableiten, dass es eine Form von Noir ist. Gleichzeitig ist es für mich aber immer ein Großstadtroman gewesen. Ich habe mich eher als jemand verstanden, der gesellschaftspolitische Romane schreibt, also dass ich mich mit der Gesellschaft in den Städten und natürlich auch dem Land, in dem ich lebe, schreibend auseinandersetze in dem Sinne, dass ich versuche denjenigen gerecht zu werden und – das klingt jetzt ein wenig blöd, aber sagen wir mal – eine Stimme oder einen Raum zu geben, der ihnen sonst möglicherweise nicht gegeben wird.
Sie haben sich aber auch immer wieder mit anderen Künstlern und gerade Schriftstellern auseinandergesetzt, beispielsweise auch schon sehr früh mit Daniel Woodrell. Was treibt Sie dazu?
Das hat mit Leseerfahrungen zu tun, die ich sehr früh gemacht habe. Ich habe sehr früh Romane von Jim Thompson und James Ellroy gelesen, schon den achtziger Jahren. Auf James Ellroy bin ich beispielsweise durch eine Freundin gekommen, die Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger in San Francisco und L.A. gelebt hat, zurückkam und zu mir sagte, Du musst einen Autor lesen, der ist unglaublich. Das war James Ellroy, der war damals hier noch nicht übersetzt, das kam erst 1981/82, mit seine frühen Werken „Brown’s Grabgesang“ und „Heimlich“.
Durch eine andere Kollegin, die sich sehr viel in Amerika aufgehalten hat, bin ich auf Jim Thompson gestoßen, und durchs Lesen bin ich auf dieser Spur geblieben. Mich haben immer die Autoren interessiert, die Abgründe aufzeigen und Schrecken deutlich machen, nicht so etwas Spektakuläres ist wie das soundsovielte Blutopfer oder Massenmord, sondern die in das Grauen der Seele und Psyche der Personen reingingen und dort die Ungeheuerlichkeiten feststellten und beschreiben. Da zeichnet sich dann eine Linie von – geschichtlich gesehen – Jim Thompson, Ellroy bis zu Woodrell und anderen ab.
Glauben Sie, dass diese Autoren Sie auch stilistisch beeinflusst haben?
Auf jeden Fall, ich habe vom Lesen vieles übertragen. Beim Schreiben bin ich stark von Ellroy beeinflusst und habe nun etwas Ähnliches bei David Peace entdeckt, der auch in diesen Stakkato-Stil mit schnellen Wechseln schreibt. Ich habe es jetzt nicht eins zu eins abgeschrieben oder übertragen, aber es ist ein Stil, der meinem eigenen Rhythmus auch sehr entspricht.
Dennoch ist Ihr Schreibstil einzigartig. Wie würden Sie ihn beschreiben?
Mir geht es beim Schreiben um Prägnanz, darum Sachen klar auszudrücken. In der Gesamtstruktur möchte ich schnelle Wechsel und Perspektivwechsel haben. Ich habe beim Schreiben immer die Vorstellung, ich erzähle einen Film. Ich denke filmisch und habe einen entsprechenden Rhythmus. Beim Schreiben merke ich, dass ich beim Abschließen eines Kapitels beispielsweise denke, hier ist der Punkt, an dem ich in eine nächste Szene, eine neue Situation gehen muss. Das hat auch sehr viel mit Musik zu tun, mit Jazz, mit Improvisation.
Ich bin ein Autor, der nicht nach einem festgelegten, vorgeschriebenen Exposé oder Plan arbeitet. Ich habe eine Grundstruktur, Notizen oder umfangreiche Auflistungen von Punkten, die ich behandeln will oder über die ich schreiben will, aber ich habe nicht wie viele andere Kollegen ein detailliertes Konzept, sondern ich habe eine Grundidee, darüber möchte ich schreiben, darauf möchte ich hinaus und dann fange ich an und das weitere ergibt sich dann.
Ist das auch die Arbeitsweise bei Texten wie „Hotel Marrakesch“?
Das sind Texte, die entstehen assoziativ. Eigentlich ist „Hotel Marrakesch“ eine Ansammlung dessen, was ich vorher gelesen und beim Aufenthalt in Marrakesch vertieft habe. Dann mache ich mir entsprechende Auszüge und Zitate und bringe diese Zitate ähnlich wie beim Roman in einen entsprechenden Rhythmus. Den kann ich gar nicht näher beschreiben, es ist ein Prozess, der entsteht, bei dem ich aber nicht analytisch sagen kann, es ist so oder so.
Ich sitze augenblicklich mit dem Kollegen Alf Mayer an einem großen umfangreichen Text über den Krimiautor Ed McBain und das 87. Polizeirevier, und da arbeite ich ähnlich. Ich lese die Bücher, mache mir Notizen, finde und markiere bestimmte Szenen. Dann fange ich mit einem Zitat an und entwickle daraus das nächste, nicht immer nur Zitat, sondern auch eigene Assoziationen, die ich habe. Das ist mein Arbeitsprozess.
Ich würde ihren Vorgang am ehesten als Montage bezeichnen – aus Zitaten, Überlegungen und Assoziationen.
Ja, es ist Material, das mir vorliegt und ich sozusagen verschneide. Dabei folge ich dem Gefühl und eigenem Rhythmus. Da habe ich kein Rezept, ich könnte keinem anderen erklären, Du musst es so oder anders machen, das ist mein eigenes Gefühl wie ich diese Materialien anordne.
Und doch kehren dann in den Romanen die Figuren immer wieder.
Bei der Kiez-Trilogie habe ich erst einmal drei Bände geschrieben. Das war eine Vorgabe vom Verlag, hing auch mit Flesch zusammen. Er wollte nicht nur ein Buch, sondern mindestens drei. Also war ich vertraglich verpflichtet, es hat sich aber auch innerlich so ergeben, dass mich die Geschichte mit der organisierten Kriminalität so gepackt hat, dass ich sie immer weiter verfolgt habe. Dann habe ich es erst einmal ruhen lassen.
Aber dann kamen Anmerkungen. Einmal von Norbert Grob, der ein Vorwort zu der Trilogie geschrieben hat, es sei ja alles ganz toll, aber: Was ist eigentlich mit Birte geschehen? Der Freundin des Kommissars, die ich im dritten Band einfach hab verschwinden lassen. Dann kriegte ich von Lesern und Zuhörern bei Lesungen immer wieder die Frage, was ist denn nun mit Birte. Und da habe ich mir gedacht, irgendwann musst du es auch mal auflösen. Dann habe ich nach mehreren Jahren angefangen, ausgehend von der Geschichte der verschwundenen Birte ein Nachklapp zu schreiben, aktuell bezogen auf die Ereignisse in Hamburg mit dem Innensenator Schill und der Befürchtung, dass die Hell Angels den gesamten Kiez übernehmen. Das war der Anlass, den Roman zu schreiben, aber damit – habe ich gesagt – ist Schluss. Das sollte dann reichen. Ich habe dann die Figuren höchstens noch einmal in kleineren Kurzgeschichten aufgegriffen.
Das hat bei mir dann immer den Effekt des „Moment, den kennst du doch!“.
Ja. Ich verfolge das gerade bei Ed McBain. Er hat mit seinem ‚87. Polizeirevier‘ 54 Bücher geschrieben, angefangen 1956 bis kurz vor seinem Tode 2005. Zum Anfang seiner Bücher sind die Protagonisten zwischen 27 und 33 Jahre alt, ich bin mal gespannt, wie er in den letzten Büchern damit umgeht, dass mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Ich habe nämlich nicht in Erinnerung, dass er sie als Greise hinstellt. Ich weiß nicht mehr, wie er es gemacht hat, in den ersten Büchern benennt er Jahreszahlen, da kann man klar sagen, wann die Handlung spielt. Nun bin ich mal gespannt, wie es mit den Romanen von 2002 aussieht. Aber das wollte ich nicht. Und es gibt ja so Leser – wie mich – die das immer genau nachrechnen, und dem möchte ich mit meinen eigenen Sachen nicht ausgesetzt sein. Die Kommissare in den Jahren und Zeiten, über die ich geschrieben habe, das ist realistisch, das kann man nachempfinden, wenn ich mehr geschrieben hätte oder weiter über die Zeit hinaus, wären sie älter und älter geworden und ich hätte mir vielleicht irgendwie etwas Dummes einfallen lassen müssen.
Und Drehbücher schreiben Sie gar nicht mehr?
Nein, das habe ich aus verschiedenen Gründen 2006 aufgegeben. Einmal wurde mir die Entwicklung in den Redaktionsstuben mehr und mehr unheimlich. Es fing damit an, dass immer mehr Leute über die Bücher mitredeten. Ich habe Drehbücher geschrieben zu einer Zeit, da hatte ich es mit einem Redakteur zu tun, maximal mit zwei. Zuletzt hatte ich es mit drei Producern und zwei Redakteuren und irgendwelchen Assistenten zu tun, da saß ich oft als einzelner Autor sieben oder acht Personen gegenüber, die natürlich alle eine eigene Meinung hatten. Das führte dazu, dass ich oft aus Besprechungen rausging und gar nicht mehr wusste, was denn nun eigentlich zu schreiben sei. Das hat mich genervt und auch sehr mitgenommen, auch der Zeitdruck, unter dem alles entstehen musste. Es wurde für mich auch ein gesundheitliches Problem, wo ich gesagt habe, wenn ich noch mehr unter dem Stress arbeite, noch mehr rauche, noch mehr Kaffee trinke, dann kann ich mir ausrechnen, wann ich den Löffel abgebe. Der andere Punkt war, dass ich mich wirklich wieder mehr auf das Roman- und Geschichtenschreiben und aufs Reisen konzentrieren wollte.
In ihrem neuen Band gibt es auch eine Geschichte über das Kino.
Ja, das sind meine Jugenderinnerungen ans Kino, über Kino als Leidenschaft. Was bei mir alles mit Kino verbunden war. Kino ist ja nicht nur im Saal sitzen und sich einen Film anschauen, sondern das ganze Drumherum finde ich wichtig. Kino als Ereignis, als Form der Kommunikation, nicht nur Filme gemeinsam sehen, sondern auch über Filme sprechen, Filme möglicherweise auch in der Phantasie weiterleben oder weiterentwickeln, das war der Anlass dieses Kinotextes.
Hat das Kino immer noch diese Bedeutung für Sie?
Nicht mehr ganz so eine große, für mich bekommen inzwischen die neueren amerikanischen Serien, die ich mir auf DVD anschaue, also von „True Detective“ und „Sopranos“ bis hin zu „The Wire“, eine größere Bedeutung. Ich gucke lieber an zwei, drei, vier Abenden oder an einem langen Wochenende hintereinander eine dieser Serien und ersetze damit einen Kinobesuch. Es ist nicht so, dass das Kino völlig herausfällt, ich gehe weiterhin ins Kino, aber nicht mehr so leidenschaftlich wie es vielleicht noch vor fünf oder sechs Jahren getan habe.
Und welche Pläne haben Sie noch?
Ganz konkret habe ich zwei Sachen: Den Text mit dem Kollegen Alf Mayer über Ed McBain, der soll im nächsten Jahr erscheinen, und das wird mich in den nächsten Wochen und Monaten noch als Hauptarbeit beschäftigen. Angefangen habe ich noch einen neuen Roman über Hamburg und die Geschehnisse der Elbphilharmonie. Und ich hoffe, ich kündige jetzt nicht etwas an, dass ich dann nicht fertig bekomme.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sonja Hartl für die Polar Noir im Oktober 2014.